Jahresthema 22/24 – Das Sichtbare und das Sagbare
Das Sichtbare und das Sagbare. Die Sprachen der Kunstgeschichte
Im Zentrum kunsthistorischer Forschung stehen die Werke – Bilder, Skulpturen, Architektur, Kunsthandwerk. Die Werke müssen aber auch zur Sprache kommen: »Wir sehen Bilder nie für sich allein, unser Sehen ist nie reines Sehen. Wir hören von den Bildern, wir lesen Kunstkritiken, unser Blick ist umgeben und vorbereitet von einem ganzen Hof von Kommentaren« (Michel Butor). Obwohl die Sprache also fester Bestandteil kunsthistorischer Praxis ist, wird vergleichsweise wenig über ihren Einfluss und ihre Bedeutung nachgedacht. Das Jahresthema 2022/23 (verlängert bis 2023/24) lenkt daher die Aufmerksamkeit auf die besonderen Funktionen der Sprache für die Darstellung, Vermittlung und Erschließung der ästhetischen und historischen Qualitäten bildender Kunst. Dabei soll kein neuer paragone betrieben werden – Bild und Text, Betrachtung und Beschreibung sollen vielmehr in ihrem Zusammenspiel, ihren wechselseitigen Bezügen und Abhängigkeiten in den Blick genommen werden. Neben der (kunst-)wissenschaftlichen Sprache ist dabei auch die Sprache der Kunstkritik einzubeziehen, ebenso wie die Tradition literarischer Kunstbetrachtung. Das ausgeschriebene Thema ist historisch bewusst offen gehalten, um Beiträge vom Mittelalter bis zur Gegenwart willkommen zu heissen. Methodisch und inhaltlich orientieren sich die Projektskizzen an einem der folgenden Themenfelder: Geschichte und Theorie der Ekphrasis, Grenzen der Beschreibung und Formen des Unsagbaren, Wissenschaftssprache und Jargon, Konzepte und visuelle Strategien der datengetriebenen kunsthistorischen Forschung, alte und neue Formen des Publizierens.
Direktion
Koordination
Veranstaltungen 2022/23
Forschungsprojekte der Stipendiat:innen des Jahresthemas 2022–24
Guillaume Blanc-Marianne
Promoviert in zeitgenössischer Kunstgeschichte (Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne)
Generalsekretär der Société française de photographie
Unabhängiger Ausstellungskurator
Lingua franca photographica. Fotografie als Universalsprache
In den 1950er bis 1970er Jahren versuchten in Frankreich zahlreiche Akteure aus dem unmittelbaren Umfeld der Fotografie (vor allem im Umkreis der von Albert Plécy geleiteten Vereinigung Gens d’images) oder dem Umfeld der Printmedien (z.B. im Umkreis der von Maximilien Vox geleiteten Rencontres de Lure), eine universelle Sprache der Fotografie zu entwickeln. Im Gegensatz zu Semiologen, die nach einer Äquivalenz zwischen Bild und Sprache suchen, fanden sie in der Fotografie eine universelle Sprache, die sich nicht an den Verstand, sondern an die Gefühle und das Empfinden richtet. Sie wünschten sich eine lingua franca photographica: keine eigenständige Sprache, sondern eine Verkehrssprache, die nicht den Anspruch erhebt, die Sprache als Ganzes für sich zu beanspruchen, sondern die Sprache lediglich zu vervollständigen und sie zu vermitteln. Im Grunde strebten sie ein Esperanto der Gefühle an mit dem Ziel, eine von Sprachbarrieren befreite Menschheit aufleben zu lassen, die ihre nach dem Zweiten Weltkrieg erschütterte Einheit so wiederfinden sollte. Der semiologische Ansatz und die Medientheorie der 1960er Jahre brachen mit diesem universalistischen Projekt und hinterließen eine von jeglichen ethischen Inhalten entleerte Form – wenngleich diese für Werbungen oder zu imperialistischen Zwecken entfremdet wurden. Dieses frühe Vorhaben besser kennenzulernen und zu verstehen bietet hingegen die Möglichkeit, den Anteil der Fotografie am Ausdruck von Gefühlen und die Art und Weise, wie wir unsere kollektive Erfahrung durch das Sichtbare und das Sagbare strukturieren, neu zu überdenken und so letztlich zu einer politischen Anthropologie des Bildes beizutragen.
Max Bonhomme
Promoviert in Kunstgeschichte (Université Paris Nanterre)
»Nicht mehr lesen! Sehen!«: Rhetorik und Bildsprache in den ersten Schriften über Grafik (1890-1939)
Dieses Forschungsprojekt verfolgt das Ziel, die Entstehung eines spezifischen Diskurses über die »Grafik« zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu untersuchen. Es geht darum zu begreifen, wie eine in einer beruflichen Praxis angesiedelte Fachsprache, die ein bestimmtes Fachvokabular verwendet, sich von diesem Kontext lösen kann, um in die allgemeinere Geschichte der Bildformen Eingang zu finden, bis zur Annahme, dass eine echte Bildsprache existiert. Der Beitrag zur Entwicklung dieses Diskurses von frankophonen Autorinnen und Autoren, die noch wenig erforscht sind, soll hier analysiert werden, wobei auch der kulturelle Transfer zwischen Frankreich und den deutsch- und englischsprachigen Ländern Berücksichtigung finden soll. Die Beziehung zwischen Sichtbarem und Sagbarem steht im Mittelpunkt dieses Unterfangens, die Geschichte der Druckformen kritisch zu beleuchten. Die Typografie setzt von sich aus diese beiden Sinneswahrnehmungen in Spannung zueinander. Mehr noch, Grafik als solches stellt eine kritische Herangehensweise vor Grenzen der Beschreibbarkeit: Wie kann die Form typografischer Schriftzeichen oder Layouts in Worten umschrieben werden, ohne ausschließlich auf ein technisches Fachvokabular zurückzugreifen, insbesondere die Fachsprache der Drucker und Typografen? Im Übrigen waren die jeweiligen Eigenschaften von Text und Bild Gegenstand von Spekulationen unter Praktiker/-innen und Kritiker/-innen, insbesondere um 1930, als das Aufkommen einer »Bildzivilisation« prophezeit wurde. Diese Diskurse werden wir kritisch analysieren und ihre Verbreitung in Fachzeitschriften für Grafikdesign, Verlagswesen und Werbung einer Beurteilung unterziehen.
Sarah Flitti
Doktorandin in Kunstgeschichte unter der Leitung von Prof. Philippe Lorentz (Sorbonne Université / Centre André Chastel, Paris)
»Sarazenische Briefe«: Pseudo-Schriftzüge in der Kunst Frankreichs, Spaniens und der alten Niederlande (13.-15. Jh.)
Dieses Forschungsprojekt untersucht die Integration von Motiven aus arabischen und hebräischen Schriften in das ornamentale Repertoire der großen künstlerischen Zentren des Königreichs Frankreich, der christlichen Königreiche der Iberischen Halbinsel und der alten Niederlande. Innerhalb der untersuchten Werkgruppe (Gemälde und Handschriften, Wandteppiche und Skulpturen) unterscheiden wir die pseudokufischen Verzierungen des 13. Jahrhunderts von einer zweiten Phase, die mit der internationalen Gotik zu Beginn des 15. Jahrhunderts eingeleitet wurde und in der sich der wiederkehrende Rückgriff auf epigraphische Verzierungen auch in einer größeren Formenvielfalt niederschlägt. Das Problem der Beschreibung von Ornamenten steht daher im Mittelpunkt der Untersuchung: Lesbare Schriftzüge sind selten und erlauben die Anwendung paläographischer und epigraphischer Hilfsmittel zu ihrer Beschreibung, aber einige Fantasiezeichen, die zwischen Schrift und Ornament angesiedelt sind, widersetzen sich einer Klassifizierung. Die Verlagerung des Schriftzeichens aus seinem kulturellen Kontext heraus führt zu einem Verlust an Deutlichkeit und einer Bedeutungsveränderung. Als Teil des Bildes haben diese Pseudo-Schriften eine ikonografische Funktion, die im Rahmen des Projekts beleuchtet werden soll. Als Kostümverzierung können Pseudo-Schriften darauf hinweisen, dass die dargestellte Geschichte im Heiligen Land spielt, oder auch, wenn sie auf einem Spruchband verwendet werden, die Unübersetzbarkeit des Wort Gottes bezeichnen.
Francesca Golia
Promoviert in Studien zu Italien (Sapienza-Università di Roma und Sorbonne Université)
»Wozu braucht man Maler in Katastrophenzeiten?«. Ekphrastische Erkundungen rund um den Isenheimer Altar zwischen Deutschland, Frankreich und Italien (1905-2021)
Ziel dieses Forschungsprojektes ist es, den Einfluss der Ekphrasis bei der Wandlung des Isenheimer Altars (1512-1516) zu einem Wahrzeichen unserer Gegenwart zu untersuchen. Die Analyse des Werkkorpus, der aus Texten auf Deutsch, Französisch und Italienisch besteht und deren Genres vom Essay bis zum Gedicht reichen, soll aus einer komparatistischen Perspektive und mit einem transdisziplinären Ansatz durchgeführt werden. Auch wenn als Ausgangspunkt die diskursive Dimension der Beschreibung gewählt wird, soll die Arbeit einen Schwerpunkt auf die Verflechtungen zwischen Blick und Diskurs legen und dabei sowohl die Besonderheiten von Text und Bild als auch ihre Wechselbeziehungen berücksichtigen. Zu diesem Zweck soll das Benjaminsche Konzept der „Lesbarkeit“ herangezogen werden, um den Text als Ort zu untersuchen, an dem die Dialektik des Bildes erfasst werden kann. Dieses heuristische Werkzeug soll auch dazu dienen, die »Bildhaftigkeit« der Schrift zu überprüfen, d.h. ihre Eigenschaft, die den Darstellungen des Isenheimer Flügelaltars immanenten Spannungen zu vertiefen und zu verarbeiten, wodurch wiederum andere Bilder und Darstellungen entstehen. Da das Benjaminsche Konzept der Lesbarkeit weder mit der Sichtbarkeit noch mit der Sagbarkeit deckungsgleich ist, wird es dabei nützlich sein, die Verbindung zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren aus der Perspektive einer offenen und konfliktreichen Dialektik zu erforschen.
Louis-Antoine Mège
Doktorand in zeitgenössischer Kunstgeschichte unter der Leitung von Prof. Valérie Mavridorakis (Sorbonne-Université / Centre André Chastel, Paris)
»The voice of the painting«. Dialog zwischen Gemälde und Sprache in der sich verändernden konzeptuellen Praxis des Art & Language (1979-1999)
Art & Language, eine Gruppe mit programmatischem Namen, war in den späten 1960er Jahren ein wichtiger Akteur einer analytischen und sprachlichen Konzeptkunst, die die Malerei durch verschiedene Formen von Sprache ersetzte. Zu Beginn der 1980er Jahre, in einer Zeit interner Veränderungen, trat die Malerei wieder in den Vordergrund und verdrängte die nachlassende diskursive Praxis in den Hintergrund. Diese bemerkenswerte Entwicklung wurde jedoch von der Geschichtsschreibung, die sich auf die Gruppe bezog, nicht beachtet und von einigen Kommentatoren als Eingeständnis des Scheiterns der ursprünglichen Ambitionen aufgefasst. Die Untersuchung einer komplexen intermedialen Funktionsweise der Werke ermutigt uns jedoch, die gegenteilige Hypothese einer gewissen Kontinuität des konzeptuellen und kritischen Vorhabens aufzustellen. Der Versuch, der Malerei wieder eine „Stimme“ zu verleihen, wie es die Künstler vorschlagen, indem sie den Topos des stummen Bildes umkehren, könnte die Möglichkeiten eines sich wandelnden konzeptuellen Ansatzes wiederbeleben. Eine solche Verflechtung von Sichtbarem und Sagbarem vorwegzunehmen, die durch zahlreiche theoretische Bezüge (Goodman, Luhmann, Wittgenstein, Wollheim) gestützt wird, stellt jedoch im Gegenzug unsere eigene Methodik in Frage. Denn durch die Heterogenität unseres Gegenstandes – im Spannungsfeld zwischen Kunst und Sprache – werden Fragestellungen aufgeworfen, die eine anspruchsvolle Auseinandersetzung mit Kunstgeschichte offenbar fördern: einer Kunstgeschichte, die sich dafür besser eignet, eine künstlerische Praxis zu erfassen, die stets danach strebt, sich von jeglichem einengenden Rahmen zu befreien.
Marie Schiele
Promoviert in Philosophie (Sorbonne Université) und assoziiertes Mitglied des Centre Victor Basch (Philosophie der Kunst und der Ästhetik, U.R. 3552, Sorbonne Université)
Die Vorliebe für Drapierungen oder die Erprobung der gewöhnlichen Sprache. Vermächtnis und Weiterentwicklungen der Schreibweise Diderots über das Materielle in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
Dieses Forschungsprojekt befasst sich mit Diderots Schriften, der »Poesie des Stils«, wie sie von Jaucourt in der Encyclopédie genannt wird, insbesondere anhand des Beispiels der Drapierungen in seinen Besprechungen der Pariser Salons. Mit Diderots »Poesie des Stils« und durch die Schaffung lebendiger Bilder in den Texten erfährt die Betrachtung eines Werks eine Verdoppelung; dies verstärkt das Gefühl der Verbundenheit mit dem Werk oder entfacht es sogar neu. Die Worte kommentieren das Werk nicht durch eine Überlagerung von Bedeutung, stattdessen durchdringt die Bildsprache die Worte, indem sie durch Analogien oder die Suche nach einer besonderen Formulierung ihre Bildhaftigkeit zum Vorschein bringt. Die Vorliebe für Drapierungen, die Diderot in seinen Salon-Besprechungen entwickelt, entspricht somit dem künstlerischen und im weiteren Sinne erkenntnistheoretischen Paradigma, das für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts charakteristisch ist, nämlich der Aufwertung des Tastsinns gegenüber dem Sehsinn. Die Wahl eines solchen Paradigmas verändert nicht nur das Verhältnis zwischen den Künsten und die damit verbundene Hierarchie der Sinne, sondern auch das Verhältnis zum Kunstwerk, indem die Bewertungskriterien vom gefühlten Objekt auf das fühlende Subjekt verlagert werden. Ausgehend von Diderot soll sich unser Projekt mit zwei Themen befassen:
• Auf konzeptueller und stilistischer Ebene soll untersucht werden, wie die Versprachlichung der materiellen Auswirkungen eines Werks die Grenze zwischen der gewöhnlichen Sprache und der Sprache der Kunst verändert.
• Auf geistesgeschichtlicher Ebene soll neu erarbeitet werden, wie Diderots Sprache der Materie durch den Idealismus, der unter anderem von Winckelmann verkörpert wird, auf die Probe gestellt wird.
Anna Siebold
Visiting Predoctoral Fellow im Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und Doktorandin in Geschichte an der Universität Oldenburg
Geschichte messen. Digitale Ansätze in der Geschichtsforschung und deren epistemologische Implikationen
Das Dissertationsprojekt befasst sich mit dem Einsatz digitaler Werkzeuge in der Geschichtsforschung und fragt, wie sich dieser auf die Produktion historischen Wissens auswirkt. Verändern digitale Forschungswerkzeuge die Art und Weise, wie Geschichte erforscht und geschrieben wird? Schlägt man Publikationen aus dem Bereich der Digital Humanities auf, so scheint die Antwort oft eindeutig: Digitale Forschungswerkzeuge eröffnen neue Forschungswelten, die wiederum neue Fragen, neue Methoden und neue Ergebnisse ermöglichen. Eine gewisse Rhetorik des Neuen scheint sich herausgebildet zu haben. Vor dem Hintergrund des Eindringens von Berechnung, Messung und Quantität in die Diskurse und Praktiken der Geschichtswissenschaft soll anhand von Fallstudien untersucht werden, ob und wie sich die genannten Methoden auf das historische Erzählen auswirken. Führen sie zu anderen Erzählweisen? Welche Prinzipien liegen ihnen zugrunde und wie schlagen sie sich in der historischen Arbeit nieder? Und welche Rolle spielt dabei das Bild? Vor dem Hintergrund des Jahresthemas des DFK Paris rücken Lesbarkeit und Sprache in den Fokus. Was wird lesbar oder unlesbar, wenn die Lesbarkeit sich danach richtet, was das Werkzeug ermöglicht? Damit werden einerseits Fragen nach den Produktionsbedingungen historischen Wissens aufgeworfen, andererseits werden die Ausdrucksformen von Historiker/‑innen angesprochen, etwa welchen Einfluss die Verwendung einschlägiger Begriffe und Konzepte aus der Informatik auf die historische Forschung hat und inwiefern durch die Zusammenführung der Disziplinen neue Sprach‑ und Bildkonventionen entstehen.