Signum und Simulacrum

Signum und Simulacrum

Spuren und Einschreibungen im Marmor der französischen Bildhauerei des 18. Jahrhunderts: Interpretationsraum – Fotografischer Blick – Kunsthistorischer Kontext

Die Frage, wie wir Skulptur wahrnehmen, bezeichnete Richard Wollheim in Art and its Objects als schwierigstes Problem und „loose end“ in der Wahrnehmungsphilosophie.1 Jüngst hat Malcolm Baker an das Problem angeknüpft und die simultane Wahrnehmung von Marmorskulptur als Repräsentation und materielle Substanz untersucht. Seinen Beitrag schloss er mit dem oben erwähnten Hinweis Wollheims ab.2 Zu viele lose Enden sind noch aufzugreifen. Signum und Simulacrum befasst sich nun unter der Prämisse der Wahrnehmung mit ausgewählten Marmorskulpturen des 18. Jahrhunderts und legt den Schwerpunkt auf Spuren und Einschreibungen, welche deren materielle Oberfläche zeigen. Drei Perspektiven sollen dabei eröffnet werden: der Interpretationsraum der fokussierenden ‚Nahsicht‘, der fotografische Blick und die kunsthistorische Einordnung, welche die betrachteten bildhauerischen Details in eine semiotische Analyse einbezieht, die auch den technischen Prozess von Auswahl, Bearbeitung und Herstellung des Werkes berücksichtigt.

Interpretationsraum der ‚Nahsicht‘
Hier geht es um die Reflexion einer Rezeptionshaltung, deren räumliche Nähe auch als Erfahrung von Bewegung und Anschauen zu einer spezifischen Wahrnehmungskonstellation führt. Wir kennen eine solche Perspektive der Betrachtung als intentionale Haltung bereits aus der Zeit der Entstehung der Werke, wie die Zeichnung Gabriel de Saint-Aubins zu einer Ausstellung des Salon de Paris im Jahr 1767 zeigt. Das Publikum kommt hier den auf Tisch- und Sockelgestellen präsentierten Skulpturen sehr nahe. Die Frage nach Distanzschau und Nahsicht ist freilich älter (Tizian), tritt jedoch im 18. Jahrhundert in einen Diskurs über die Angemessenheit der Betrachtungshaltung ein, etwa mit der Opposition von stiller Versenkung und extrovertiertem Kunstgespräch (Chodowiecki, Winckelmann). Besonders der Aufstellungsort am Beispiel der Gartenskulptur stellt seit Félibiens Promenades im Park von Versailles die Frage nach dem richtigen Standort einer Betrachtung (Herder!).
 
In der Nahsicht tritt ‚das große Ganze‘ in der Wahrnehmung zurück und die handwerkliche Bearbeitung im Zusammenspiel mit den materiellen Texturen des Marmors rücken in den Mittelpunkt der Betrachtung. Doch welche Interpretationsangebote machen Einkerbungen oder Bohrungen sowie Venen oder Risse bzw. gar ‚Fehler‘ im Material? Wie wird der geformte Stein in unserer Wahrnehmung zur Blüte oder zum Zehennagel, also zu einer Illusion? Wolfram Pichler hat diese Frage bildwissenschaftlich formuliert und auf den Punkt gebracht: How to enter image-space?3 Auch wenn diese Frage auf das mentale Bild, die Vorstellung und visuelle Repräsentation abzielte und sich am zweidimensionalen Bild als Stimulus orientierte, so lässt sie sich zugleich auf einen materiellen Ort und ein dreidimensionales Objekt beziehen – wohlwissend, dass uns bereits Wollheim auf ein unübersichtliches Terrain führte. Wie entstehen die materiellen Formen, welche uns zu vielfältigen, zunächst unscharfen und meist sehr individuellen Assoziationen verführen? Und – methodologisch überlegt – inwiefern könnte eine Analyse, die sich für Entstehungsprozesse der Formen interessiert, als kunsthistorischer Ansatz bei der Suche nach Antworten fruchtbar gemacht werden? 

Der fotografische Blick
Um analytische Erkenntnisse aus der unmittelbaren Begegnung in einen wissenschaftlichen Diskurs zu überführen oder um ein umfassenderes kunsthistorisches Argument zu entwickeln, werden Fotografien benötigt. Oftmals werden Thesen zur Skulptur in reiner Auseinandersetzung mit Abbildungen formuliert und anschließend an den Originalen vor Ort verifiziert. Daher wird die Rolle der fotografischen Reproduktion, die im Publikationsmedium die reale Skulptur und die unvermittelte Wahrnehmung des formalen Bildangebotes überblendet, beim Nachdenken über Skulptur zum Schlüsselfaktor. Im Spektrum zwischen objektivierender Dokumentarfotografie und subjektivem Ausdruck bezieht Signum und Simulacrum nun eine klare Position zugunsten der Akzeptanz und Chance eines subjektiven fotografischen Blicks. Die Entscheidung zur Aufnahme individueller und naher Betrachtung von Skulptur ist als Experiment angelegt und misst sich an der leitenden Fragestellung, inwiefern dieser Blickwinkel einen analytischen Mehrwert bietet. Dabei ist zu beachten, dass diese Methode im kulturhistorischen Kontext der Skulpturenfotografie zu verorten ist.4 Insbesondere die Geschichte der Archäologie als Disziplin hat sich bereits mit der Frage nach der vorwegnehmenden (unzulässigen) Interpretation durch das fotografische Abbild befasst.5 Aus kunsthistorischem Erkenntnisinteresse arbeitete beispielsweise Clarence Kennedy zu Beginn des 20. Jahrhunderts bewusst mit fotografischen Mitteln in seinen Studien über griechische und Florentinische Bildhauerei.6

Für Ulrich Middeldorf bringen Kennedys Aufnahmen die bildhauerische Qualität zum Ausdruck. Er verankerte diese bei den formalen Kategorien „structure, design, modelling and textures“.7 Aus Sicht der Geschichte der Kunstgeschichte etablierte sich die kunsthistorische Formanalyse zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Kontext neuer Reproduktionstechnologien (etwa bei Heinrich Wölfflin in der Argumentation der Kunsthistorischen Grundbegriffe, München 1915). Inwieweit bindet sich folglich die Analyse der Form in der Skulpturenforschung an eine Fotografie, welche Skulpturen auch aus der Nähe und ohne Rücksicht auch die Geschlossenheit der Umrisslinie reproduziert? 
Doch nicht nur in Bezug auf die Geschichtsschreibung des Fachs stellt sich die Frage nach dem Reflexionspotential, den das fotografische Bild der kunsthistorischen Analyse eröffnet. Auch vor dem aktuellen Hintergrund scheinbar unendlicher, entgrenzender und translokaler Infrastruktur durch virtuelle und online verfügbare Bilddatenbanken, räumliche Reproduktionen im 3-D Druck oder computergestützte, bildgenerierende, dynamische Verfahren zur Darstellung komplexester Zusammenhänge im Zuge der „Digital Humanities“, ist es relevant, die visuellen Re-Produktionen immer wieder an das dargestellte Objekt zurückzubinden und semiotische Schleifen im Blick zu behalten. Die technologische Entwicklung hat die verfügbare Quantität und Vergleichbarkeit von Skulpturen erhöht, die an den unterschiedlichsten Orten aufbewahrt werden und so den Denkhorizont in diesen Dimensionen massiv erweitert. Doch die Herausforderung bleibt, mit der Dreidimensionalität, materiellen Präsenz und Standortfixierung dieser Kunstgattung umzugehen. Was kann eine ‚subjektive‘ Fotografie, die unkonventionelle Blickwinkel, soziale Konfrontationen, Atmosphären oder Licht-Schatten-Dramaturgie zulässt, zum kunstwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn beitragen?

Kunsthistorische Einordnung der Spuren und Einschreibungen
In die Überlegungen zum Interpretationsraum und fotografischen Blick will Signum und Simulacrum auch die kunsthistorische Einordnung des Sujets hineinnehmen. Hans Körner zeigte die Relevanz einer vertiefenden Strukturanalyse skulpturaler Praxis auf.8 Er beschrieb das bildhauerische Interesse an der als „Epidermis“ aufgefassten Oberflächentextur der französischen Steinskulptur vom späten 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert und arbeitete eine „Überlagerung“ von Transzendenz und Betonung des „Steinsein[s] der Skulptur“ heraus.Zum Beispiel könnten feine Kratzspuren auf der polierten Oberfläche bei Jean-Baptiste Pigalles Voltaire nu (1776, Musée du Louvre, Paris) auch ein subtiler selbstreferenzieller Hinweis auf die technische Bearbeitung sein. Die ‚Nahsicht‘ der Betrachtung und das fotografische Äquivalent à la Kennedy offenbaren nicht allein formale Qualitäten, sondern ebenfalls handwerklich-künstlerische Markierungen und materielle Zufälligkeiten im Transformationsprozess vom Steinblock zum Bildobjekt.

Diese Sektion reflektiert nun auffallende Details, besondere Techniken oder Darstellungskonventionen. Ausgehend von diesen Beobachtungen lassen sich zudem Themenfelder ausmachen, die den bildhauerischen Arbeiten einen kunst-, sozial- sowie materialhistorischen Rahmen geben: Dazu zählen beispielsweise das hierarchische Verhältnis zwischen Skulpturentheorie und bildhauerischer Praxis oder die Arbeitsbedingungen der Bildhauer (und der wenigen Bildhauerinnen) zwischen Werkstatt und Kunstakademie, aber auch die materialästhetische Einschätzung des weißen Marmors, als exklusiver und zugleich konventioneller Werkstoff der Bildhauerei.

  1. Richard Wollheim, Art and its Objects, 2. Edition, with six supplementary essays, Cambridge University Press 1980, 224 und 226.
  2. Malcolm Baker, Sculpture and representation. Apprehending marble portrait sculpture in the eighteenth century, Sculpture Journal (2021), 30, (2), 123–137.
  3. Wolfram Pichler, How to enter image-space, in: RES, 71/72 (2019), 325-332.
  4. Geraldine A. Johnson, „In Consequence of their whiteness.” Photographing Marble Sculpture from Talbot to today, in: J. Nicholas Napoli and William Tronzo, Radical Marble. Architectural Innovation from Antiquity to the Present, London, New York, 2018, 107–132.
  5. Siehe Belichtete Vergangenheit. Archäologie und Fotografie, Fotogeschichte, Nr. 144 der Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 144 (2017), hrsg. von Babett Forster sowie Franu Schubert u. Susanne Grunauer-von Hoerschelmann, Archäologie und Photographie. Fünfzig Beispiele zur Geschichte und Methode, Mainz 1978, ferner: Philippe Collet, „La photographie et l'archéologie : des chemins inverses“, in: Bulletin de correspondance hellénique 120,1 (1996), S. 325-344.
  6. https://www.getty.edu/art/collection/artists/1345/clarence-kennedy-american-1892-1972/
  7. Ulrich Middeldorf, Clarence Kennedy 1892–1972, Art Journal, 32:3 (1973), 372.
  8. Hans Körner, Die Epidermis der Statue. Oberflächen der Skulptur vom späten 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Daniela Bohde und Mechthild Fend (Hg.), Weder Haut noch Fleisch. Das Inkarnat in der Kunstgeschichte, Berlin 2007, 105–132. Malcolm Baker, Hans Körner, Erika Naginski und Guilhem Scherf, Les Études sur la Sculpture. Le XVIIIe Siècle en Questions, in: Perspective, 3, (3) (2010/2011), 419–433.
  9. Körner: Die Epidermis der Statue, 109.

Forscher

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Markus A. Castor

Dr. Markus A. Castor

Forschungsleiter / Verantwortlich für die Publikationen der Schriftenreihe Passages Online
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Kontakt
Marthe Kretzschmar

Dr. Marthe Kretzschmar

Universität Wien (März – August 2021) / Postdoc-Projekt: Die Materialität des Marmors in der französischen Bildhauerei des 18. Jahrhunderts
Jean-Baptiste Pigalle, Bodenzone der Madame de Pompadour en Amitié, 1753, Musée du Louvre, Paris
Jean-Baptiste Pigalle, Bodenzone der Madame de Pompadour en Amitié, 1753, Musée du Louvre, Paris

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