Tempo! – zum Faktor Zeit in der Ausstattungspraxis des französischen Empire
Tempo! – zum Faktor Zeit in der Ausstattungspraxis des französischen Empire
»Il y a une espèce de voleur que les lois ne recherchent pas, et qui dérobe ce que les hommes ont de plus précieux : le temps.«
Napoleon Bonaparte (1769–1821)1
»Gut Ding will Weil haben« heißt es in einem alten deutschen Sprichwort, das, projiziert auf das Kunsthandwerk, Zeit als den entscheidenden Faktor bei der Herstellung von Luxusprodukten determiniert, während die entsprechende französische Redewendung – »Cela ne se jette pas en moule« – neben dem Zeitaspekt auch den Schwierigkeitsgrad umfasst, der also eine einfache Abformung ausschließt.2 Handwerkliche Prozesse im Bereich der hier interessierenden Raumkunst und des Kunsthandwerks um 1800 unterlagen dabei den immerwährenden Arbeitsabläufen, die die Beschaffung, Vorbereitung und Bearbeitung der Materialien und schließlich die Einrichtung, Aufstellung oder den Vertrieb der Endprodukte umfassten. Ob alleine, in Absprache mit Architekten, Zeichnern und Auftraggebern oder im Verbund mit anderen Gewerken, jede Fertigung erforderte ein Höchstmaß an Koordinierung (»Synchronisation«) der hochspezialisierten und zumeist zeitintensiven Arbeitsschritte.3
Doch Zeit war ein kostbares Gut geworden, zunächst im Zeitempfinden (»Perception du temps«) der postrevolutionären Gesellschaft, die den Zusammenbruch der alten Welt- und Zeitordnung miterlebt hatte.4 Barthold Georg Niebuhr (1776–1831) formulierte in seinen Vorlesungen zur »Geschichte des Zeitalters der Revolution« von 1829 retrospektiv die Erfahrung, dass man nach der französischen Revolution »geschwinder und intensiver als früher zu leben«5 begann, ein Zeitgefühl, das auch durch die Brief- und Memoirenliteratur der napoleonischen Zeit bestätigt wird. Während Niebuhr konkret auch verbesserte Straßennetze oder Poststationen als Begründung für eine neue Lebensintensität sah, finden sich hier neben dem Bedürfnis, die »verlorene Zeit« der Revolutionsjahre nachzuholen, Zeugnisse für einen ausgeprägten Lebensdrang, den Wunsch, den Moment zu leben.6 Beides mündete in einem gesteigerten Konsumverhalten, das, für die französische Elite, oftmals durch Napoleon finanziert wurde, der den strategischen Vorteil von Zeit – und der Lebenszeit, die ihm seine Anhängerschaft auch für seine zahlreichen Kriege zur Verfügung stellte – für seine politische Agenda (»Chronopolitik«) zu nutzen verstand. Mobilität, Schnelligkeit und Reaktivität waren dabei die entscheidenden Vorteile, mit denen Napoleon tradierte Raum- und Zeitverhältnisse zu überwinden suchte.7 Die hieraus resultierende neue Zeiterfahrung betraf – im Sinne einer bislang für die napoleonische Zeit noch nicht exakt umrissenen »Beschleunigung« – auch die prätechnologische und vorindustrielle Luxusproduktion im französischen Kunstgewerbe.8
Unerlässlich für die Repräsentation des neuen Regimes entfaltete der gemeinsam von Charles Percier (1764–1838) und Pierre-François Léonard Fontaine (1762–1853) für Napoleon kreierte Empirestil mit seiner dem römischen Kaiserreich entlehnten Formensprache am eindrucksvollsten in den dekorativen Künsten seine ganze Wirkmacht. Es ist dieses materielle Erbe des Empire, die Wandvertäfelungen, Dekorationsmalereien, Möbel, Seidenstoffe, vergoldete Bronzen oder auch Porzellane, mit dem Manufakturen und Handwerker im Zusammenspiel mit einem hochspezialisierten Kunstmarkt und einer gut organisierten Verwaltung das napoleonische Regime sinnlich wie materiell anschaulich, ja im besten Sinne des Wortes »greifbar« machte. Die teils großzügigen Zeitvorgaben, die noch in der vorrevolutionären Zeit bei der Realisierung von Innendekorationen oder der Herstellung von Luxusgütern bestanden, waren im Empire kaum mehr anzutreffen. Ein sehr frühes Beispiel für ein Bauprojekt, das in besonderem Maße von den engen Zeitvorgaben (hier Napoleons) bestimmt war, ist die Einrichtung eines Ratssaals in Schloss Malmaison im Jahr 1800. Die im Recueil de décorations intérieures suggerierte Konstruktionszeit von nur einer »Dekade« gemäß dem 1792 eingeführten republikanischen Kalender bestimmte die Planung und materielle Realisierung dieses Projektes, das, eingebaut in das bestehende Raumvolumen, schließlich aus einem Innenzelt in einer einfachen Holz/Stoff-Konstruktion bestand.9 In der Künstleranekdote des Recueil wird das Tempo bei der Umsetzung dieses Projektes zu einem Beweis für das Genie der Architekten, die Produktivität der französischen Manufakturen und letztendlich für das Organisations- und Verwaltungstalent des Auftraggebers umgedeutet. Die Wahl der Materialien und die handwerkliche Ausführung hingegen werden ebenso wenig thematisiert wie das ephemer anmutende Resultat, das sich zwischen Geniestreich und ästhetischem Kompromiss situiert.
Das vorliegende Forschungsprojekt setzt genau hier an, in dem es die Einflüsse neuer Zeiterfahrungen auf die Herstellung und Ästhetik von Innenausstattungen und kunstgewerblichen Objekten und ihre Wahrnehmung in Frankreich um 1800 untersuchen möchte. Fragen der Technikgeschichte und der vorindustriellen Produktion stehen ebenso im Fokus des Projektes wie die napoleonische Kunst- und Kulturpolitik, die auf Beschleunigungsversuche und Industrialisierungstendenzen in der Produktion der dekorativen Künste untersucht werden soll.10 Weitere Themen des Projektes sind unter anderem: Materialität/Material Turn – Neustrukturierung von Arbeits- und Organisationsprozessen – Wirtschaftspolitik – Kunstmarkt – Luxusindustrie – Industrieförderung – Zeit- und Qualitätsmanagement.11 Das Forschungsvorhaben profitiert von den Erfahrungen, die im Forschungsprojekt »Wissenschaftliche Bearbeitung des Palais Beauharnais« konkret im Austausch mit Manufakturen, Handwerkern und Restauratoren in der wissenschaftlichen Begleitung von Restaurierungsvorhaben gemacht wurden und ist offen für interdisziplinäre Ansätze.
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1 Napoléon Bonaparte, Maximes et pensées du prisonnier de Sainte-Hélène, manuscrit trouvé dans les papiers de Las-Cases, traduit de l’anglais, Commercy 1845, S. 125, Nr. 322.
2 Johannes Agricola, Sybenhundert vnd Fünfftzig Teütscher Sprichwörter, verneüwert vnd gebessert, Hagenau, 1534, Nr. 656; siehe auch Karl Friedrich W. Wander (Hg.), Deutsches Sprichwörter-Lexikon, 5 Bde., Leipzig 1867–1880, Bd. 1, 1867, S. 636, Nr. 866 u. 867. Zum frz. Sprichwort: Jean Pierre Louis De Beauclair, Cour De Gallicismes, 4 Bde., Frankfurt 1794–1796, Band 2, 1795, S. 107.
3 John Holloway, Edward P. Thompson, Blauer Montag. Über Zeit und Arbeitsdisziplin, Hamburg 2007.
4 Zur Zeiterfahrung um 1800 siehe vor allem die Arbeiten aus den Geschichts- und Literaturwissenschaften: Reinhart Koselleck u. Rolf Reichardt (Hg.), Die Französische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewußtseins: Vorlagen und Diskussionen der internationalen Arbeitstagung am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, 28. Mai–1. Juni 1985, München 1988; Ernst Wolfgang Becker, Zeit der Revolution! – Revolution der Zeit? Zeiterfahrungen in Deutschland in der Ära der Revolutionen; 1789–1848/49, Göttingen 1999; Alexander Honold, Die Zeit schreiben: Jahreszeiten, Uhren und Kalender als Taktgeber der Literatur, Basel 2013, S. 65-85 (»3. Die Architektur der neuen Zeit. Der französische Revolutionskalender und seine Medienästhetik«).
5 Barthold Georg Niebuhr, Geschichte des Zeitalters der Revolution Vorlesungen an der Universität zu Bonn im Sommer 1829 gehalten, Hamburg 1845, S. 54–55; in diesem Sinne interpretiert bei Ernst Wolfgang Becker, op. cit., S. 11
6 Letzteres ergab sich aus der Unsicherheit der fast kontinuierlichen Kriegssituation der Jahre 1800 bis 1815. Siehe Natalie Petiteau, »Les Français face au temps de l’Empire«, in Revue d’histoire du XIXe siècle. Société d’histoire de la révolution de 1848 et des révolutions du XIXe siècle, 25 | 2002 (»Le temps et les historiens«), S. 29–41, online: http://journals.openedition.org/rh19/417; Ernst Wolfgang Becker, op. cit., S. 11.
7 Zur Chronopolitik siehe auch Paul Virilio, Geschwindigkeit und Politik: ein Essay zur Dromologie, Berlin 1980. Zu Napoleons Verhältnis zur »Zeit« siehe u.a. Berthold Vallentin, Napoleon, Berlin 1923.
8 Die Zeit um 1800 wird in den meisten soziologischen oder auch philosophischen Arbeiten zur Zeit ausgeblendet, so etwa bei Hartmut Rosa (ders., Beschleunigung: die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2010, S. 24).
9 Recueil de décorations intérieures comprenant tout ce qui a rapport à l’ameublement, comme vases, trépieds, candélabres, cassolettes, lustres, girandoles, lampes, chandeliers, cheminées, feux, poêles, pendules, tables, secrétaires, lits, canapés, fauteuils, chaises, tabourets, miroirs, écrans, &c. &c. &c., composés par C. Percier et P. F. L. Fontaine, exécutés sur leurs dessins, Paris, 1801–1812, S. 39, planche LV.; siehe auch Pierre François Léonard Fontaine, Journal : 1799–1853, 2 Bde., Paris, École Nationale Supérieure des Beaux-Arts, 1987, Bd. 1, S. 10 (Eintrag vom »10 pluviôse« (30. Januar 1800): »[le] Premier Consul qui paraît disposé à venir y [nach Malmaison] prendre l’air tous les dix jours«); zum Ablauf der Arbeiten: Bernard Chevallier, Malmaison: château et domaine des origines à 1904, Paris 1989, S. 91-93.
10 Michael P. Fitzsimmons, From artisan to worker: guilds, the French state, and the organization of labor, 1776–1821, Cambridge 2010.
11 Zur beginnenden Industrialisierung siehe u. a. André Guillerme, La naissance de l’industrie à Paris : entre sueurs et vapeurs, 1780–1830, Seyssel 2007, der ganz bewusst die Luxusmanufakturen ausblendet; Thomas Le Roux (Hg.), Les Paris de l’industrie 1750–1920 : Paris au risque de l’industrie, Ausstellungskat. Paris, Réfectoire des Cordeliers, Grane 2013.