Ökologien des Surrealismus

Ökologien des Surrealismus

Mitten im surinamischen Regenwald steht eine verlassene Lokomotive, überwuchert von Lianen, die sich um den Stahlkoloss winden, als würden sie ihn sich einverleiben. Diese beachtliche Aufnahme begleitete 1937 Benjamin Pérets Kurzgeschichte La nature dévore et éclipse le progrès in der surrealistischen Zeitschrift Minotaure. Péret beschreibt darin, wie die Technik als Vorhut menschlicher Expansion – Telegrafenkabel, Dynamit, Maschinen – gewaltsam in die Natur eindringt. Angesichts dieses Vorstoßes lässt er sogar die Blumen weinen. Doch am Ende behauptet sich in Text wie Bild die Natur: Sie bringt den Fortschritt zum Stillstand und verwandelt ihn in ein Relikt. Ein ähnliches Motiv findet sich in Max Ernsts Gemäldeserie Jardin Gobe Avions (1935-1936). Dort ist ein maschinenartiger Vogel in einer unheimlichen Landschaft gestrandet. Aus seinen metallischen Teilen sprießen Pflanzen, die sich mit der Technik verschränken. Flugzeuge – Sinnbilder menschlicher Überlegenheit über die Natur – werden hier von einer vitalen, unkontrollierbaren Vegetation überwuchert. Die Natur triumphiert, nicht als romantisches Idyll, sondern als eigenständige Kraft mit ungewisser Richtung.

Diese surrealistischen Visionen lassen sich als frühe ästhetische Reflexionen ökologischer Verwerfungen lesen – lange bevor die ökologische Frage ein politisches Schlüsselthema wurde. Der Surrealismus entwickelte nach dem Ersten Weltkrieg eine Bildsprache für eine Welt im Ungleichgewicht. Seine Kritik am westlich geprägten Anthropozentrismus und Humanismus, der Rückgriff auf Mythen, Alchemie und außereuropäische Wissenssysteme eröffneten alternative Denkfiguren im Verhältnis von Mensch, Natur und Technik. Das Buchprojekt geht der Frage nach, wie im Surrealismus ökologische Perspektiven sichtbar und fruchtbar gemacht werden. Welche Bilder entwerfen Künstler*innen für das gestörte Verhältnis von Kultur und Natur? In welchen ästhetischen Formen – politischen, romantischen, feministischen, mythologischen oder hybriden – treten ökologische Motive zutage? Und welchen Beitrag leistet die Kunst zur Wahrnehmung und Verhandlung ökologischer Prozesse? Anhand ausgewählter Fallstudien, die von den Zwischenkriegsjahren bis in die 1960er Jahre reichen, spürt das Projekt den vielfältigen Ausprägungen ökologischen Denkens im Surrealismus nach – aus kunsthistorischer, medienkultureller und ideengeschichtlicher Perspektive.

Von September 2019 bis Juni 2020 konnte Julia Drost ihre Forschungen als Scholar im Rahmen des Jahresthemas Art & Ecology am Getty Research Institute in Los Angeles betreiben und setzt ihre Arbeit nun am DFK Paris fort.

Projektbeginn
01.09.2019

Leitung

Kontakt
Dr. Julia Drost

Dr. Julia Drost

Forschungsleiterin / Verantwortlich für Förderprogramme
Telefon +33 (0)1 42 60 67 97
Anonym, La nature dévore le progrès et le dépasse, Minotaure 10/4, Winter 1937, p. 20.
Anonym, La nature dévore le progrès et le dépasse, Minotaure 10/4, Winter 1937, S. 20.