Jahresthema 21/22 – Street Art
Street Art
Die Begriffe Street Art oder Urban Art beschreiben verschiedene Formen, mit denen Künstler seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in die künstlerische Gestaltung den öffentlichen urbanen Raums eingreifen und damit einer immer wieder beklagten Monotonie und Unwirtlichkeit der Städte und der Kommerzialisierung entgegenzuwirken versuchen. Street Art verbindet sich mit der Frage, wem der öffentliche urbane Raum gehört, eine Frage, die politisch durch die Kämpfe um eine Demokratisierung der westlichen Gesellschaft seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts und wissenschaftlich durch die nicht weniger politische Diskussion um die Öffentlichkeit befördert wurde. Autorisierten Formen, mit denen ein urbaner Raum gestaltet wird, stehen nicht autorisierte Formen meist in Form von Graffitis gegenüber, die sich in einer subversiven, auch ironischen Weise des urbanen Raumes zu bemächtigen versuchen. Eine Sonderform schaffen aus der Jugendkultur entwachsene Sprayer, die insbesondere Mittel des öffentliche Transports – Züge, U- und Straßenbahnen, Busse – mit ihren ornamentalen Formen und Schriftzeichen versehen und dabei nicht selten eine eigene, nur Insidern verständliche Sprache entwickeln.
Mit den nicht autorisierten Formen ging eine radikale Infragestellung des Kunstbetriebs einher. Die Werke sind nicht auf eine lange Lebensdauer angelegt und untergraben die Mechanismen des Kunstmarktes. Die Anonymität des Künstlers oder der Künstlergemeinschaften, die Arbeit unter Decknamen hinterfragen zudem das Prinzip der Autorschaft. Damit brachte sich die Street Art in zentrale Diskussionen Debatten um die Kunst und ihre gesellschaftliche Bedeutung ein und beeinflusste auch mit den von ihr entworfenen Formen die weitere Kunstentwicklung. An diesem Thema arbeitete ab September 2021 eine Forschergruppe des Deutschen Forums für Kunstgeschichte Paris, begleitet von Thomas Kirchner (DFK Paris), Claire Calogirou (wissenschaftliche Mitarbeiterin, Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée, Mucem, Marseille, und Idemec/CNRS) und Élodie Vaudry (DFK Paris).
Ansprechpartnerin: Claire Calogirou
Promotion in städtischer Ethnologie, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut d’Etudes Européennes et Méditerranéennes Comparatives-CNRS und am Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée. Forschungsarbeiten über Kulturen im städtischen Raum, zur Entwicklung einer Reihe von Fragestellungen rund um das Verhältnis zwischen Populär- und Hochkultur, die Weitergabe von Wissen, Fragen der Identität und der Ästhetik sowie der materiellen/immateriellen Kultur. Forschung und Aufbau von Sammlungen für das Mucem über Skateboarding (1992-2001) sowie Hip-Hop und Graffiti (seit 1999). Kuratorin von Ausstellungen über Skateboarding, Hip-Hop und Graffiti. Zahlreiche Universitätsvorlesungen, Konferenzen und Veröffentlichungen. Dozentin an der Ecole du Louvre.
Forschungsprojekte der Stipendiat:innen des Jahresthemas 2021/22 »Street Art«
Dr. Cristóbal F. Barria Bignotti
Promotion in Kunstgeschichte an der Universitá degli Studi di Roma »La Sapienza«, Rom, Italien
Cartographie transnationale des brigades murales chiliennes (Grenzüberschreitende Kartierung der chilenischen Wandmalerei-Brigaden)
Dieses Projekt setzt sich zum Ziel, die grenzüberschreitende Verbreitung der Werke chilenischer Wandmaler-Brigaden1 zu erforschen. Um dies zu verwirklichen, wird vorgeschlagen, ein digitales Archiv der in verschiedenen Teilen der Welt entstandenen Werke anzulegen und ein Informatik-Tool zu entwickeln, das es ermöglicht, 1. die Bilder geografisch zu lokalisieren, 2. sie nach Thema, Autor, den jeweiligen Maßen und der verwendeten Ikonographie zu ordnen und 3. sie mit digitaler Bildverarbeitung in Cluster zusammenzufassen. Diese Plattform sollte frei zugänglich sein, damit andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Thema Street Art aus verschiedensten Perspektiven, z.B. aus städteplanerischen, soziologischen, ikonographischen, thematischen usw. Gesichtspunkten erforschen können. Die zunächst unter dem Namen Brigaden Ramona Parra bekannten Gruppen von Wandmalergemeinschaften wurden 1968 unter der Fittiche der Kommunistischen Partei Chiles gegründet. Ihr wichtigstes Ziel war, politische Propaganda für Salvador Allendes Präsidentschaftskampagne zu produzieren. Unter der Regierung des sozialistischen Präsidenten diversifizierten sich die verschiedenen Gemeinschaften und wurden zu kulturellen Akteuren von großer nationaler Bedeutung. Sie entwickelten eine unverwechselbare Ästhetik, die für die Zeit der Volkseinheit prägend wurde (Baumann, 2014; Canto Novoa, 2012; Castillo, 2016, Fontaine, 2014, Garcia, 2005, Lemouneau, 2019, Sandoval, 2001). Nach dem Staatsstreich vom 11. September 1973 gingen die Mitglieder in den Untergrund oder mussten ins Ausland flüchten. In beiden Fällen übten die Mitglieder dieser Brigaden ihre Kunst auch unter den neuen Bedingungen weiter aus.
Sabrina Dubbeld
Promotion in zeitgenössischer Kunstgeschichte (Université Paris-Nanterre) und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Laboratoire EA4414 (HAR, Histoire des arts et des représentations, Université Paris-Nanterre)
De l’appel du mur à l’artivisme : lorsque le graff devient »écriture en événement«. Regards croisés sur les scènes graffs parisiennes et athéniennes aujourd’hui (Vom Ruf der Mauer zum Artivismus: Graffiti als »Schrift-Ereignis«. Verschiedene Perspektiven zur Graffiti-Szene in Paris und Athen heute)
Dieses Forschungsprojekt zielt darauf ab, die politische und militante Bedeutung, die Graffiti im öffentlichen Raum annehmen können, aus einem neuen Blickwinkel zu untersuchen, indem es sich insbesondere auf Produktionen konzentriert, die sich als „Schrift-Ereignis“ bezeichnen. Im Rahmen dieser Untersuchung heben sich zwei Gebiete aufgrund ihrer gesellschaftspolitischen Resonanz, aber auch wegen der zahlreichen dort stattfinden kulturellen und künstlerischen Transfers, ab: die Pariser und die Athener Szene, die beide im Mittelpunkt bedeutender Schrift-Ereignisse revolutionärer Art in den letzten fünf Jahren stehen.
Simon Grainville
Doktorant in Kunstgeschichte an der Université Paris Nanterre, unter der Leitung von Professor Thierry Dufrêne. Thema der Doktorarbeit:
»Espace, frontière de l'infini : Imaginaires science-fictionnels et esthétique spatiale dans le graffiti françaiset américain« (»Raum als Grenze der Unendlichkeit: Science-Fiction-Bildwelten und Weltraumästhetik in französischen und amerikanischen Graffitis«)
Raum als Grenze der Unendlichkeit: Science-Fiction-Bildwelten in französischen Graffitis der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts bis heute.
Das 1984 veröffentlichte Buch Subway Art, „die Bibel des Graffiti“, ist gleichsam ein Manifest. Die Fotografien von Martha Cooper und Henry Chalfant verewigten eine ganze Generation von Graffiti-Künstlern, die das MTA zu einem kreativen Raum ständiger Bewegung gemacht hatten: Zephyr, Kase 2, Lady Pink, Dondi, usw. Graffitis (oder vielmehr das writing) sind von sich aus untrennbar mit dem Schreiben und der Begrenztheit des Schriftbilds verbunden. In den Anfängen erweiterten die Sprayer ihre Schriftbilder mit Kulissen, Figuren und Accessoires und schufen so ein figuratives Bilduniversum. Das kryptisch wirkende writing wurde anhand einer Fülle von Bezügen aus der Populärkultur in ein Gleichgewicht gebracht und ermöglichte es der breiten Öffentlichkeit, diese neue „wilde“ Kunstform zu begreifen. Wie lässt sich die Entwicklung dieser spezifischen Bildwelten erklären? Zusammenfassend könnte man diese Frage mit in einer Liste von Werken und Künstlern beantworten, die der Populärkultur dieser Zeit ihren Stempel aufdrückten und dabei die Science-Fiction-Bildwelt erneuerten. Die generationsbezogenen Filme dieser Generation sind Legion: die erste Star Wars-Trilogie (1977-1983), Alien (1979), Mad Max (1979), Blade Runner (1982), Tron (1982), Dune (1984) und Terminator (1984).
Jordan Hillman
Doktorant in Kunstgeschichte, Europäische Moderne, University of Delaware, Newark, Delaware
Betreuerin: Dr. Margaret Werth
Die Vermittlung von Autorität: Darstellungen der Polizei in Paris um 1900 (Mediating Authority: Representations of the Police in Paris circa 1900)
In meiner Dissertation untersuche ich zurzeit, wie sich avantgardistische Formen der Bildproduktion den autorisierten Formen entgegenstellten, die den städtischen Raum in Paris bestimmten, insbesondere der Polizei. Die von Steinlen, Vallotton, Grün und anderen Künstlern produzierten Bilder bezweckten, sich das offizielle Polizeibild in sowohl subversiver als auch ironischer Art wieder anzueignen. Mit ihrer Darstellung und Zurschaustellung der Straße untergruben diese Künstler die modernen Konstrukte staatlicher Macht und somit deren Bestreben nach Gestaltung und Kontrolle des städtischen Raums. Durch den Einsatz neuer, reproduktiver Verfahren der Bilderzeugung und durch ihr großes Verbreitungspotenzial arbeiteten diese kritischen Bilder der Pariser Polizei gegen monolithische Vorstellungen von Autorität und deckten Fehler in der vermeintlichen Macht und Legitimität der Polizei auf. Gleichzeitig war das intermediale, avantgardistische und populäre Schaffen dieser Künstler abwechselnd der Ablehnung und der Bestätigung durch die Kunstwelt ausgesetzt. Indem sie sowohl etablierte Hierarchien der Darstellung als auch der Autorität in Frage stellten, beteiligten sich die Künstler, die im Mittelpunkt meiner Dissertation stehen, an grundlegenden Debatten über Kunst und ihre soziale Bedeutung, und nahmen dabei die gegenkulturelle Macht der Bilder fast ein Jahrhundert vor der Festschreibung des Begriffs Street Art in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts vorweg.
Sara Martinetti
Promotion in Kunstgeschichte, Geschichte und Theorie, École des hautes études en sciences sociales (EHESS), Paris
Die Schreibpraktiken von Daniel Buren, Michel Claura und anderen in der Pariser Kunstszene der 1970er Jahre
1968 begann Daniel Buren seine Serie der Affichages sauvages (Wilde Plakataktionen), über die Michel Claura in einem 1970 in Studio International publizierten Artikel schrieb: „Es gab also sowohl eine spezifische Sichtbarkeit, von der jeder Vorbeigehende Zeuge wurde, als auch eine spezifische Sichtbarkeit, deren Zuschauer all diejenigen waren, die sich spezifisch als Folge der Ankündigung der Aktion eingefunden hatten.“ In den 1970er Jahren spielten sowohl Buren als auch Claura eine aktive Rolle in einem informellen Netzwerk, das sich in alternativen Pariser Kunsträumen wie der Galerie 1-36 oder Vitrine pour l’art contemporain zusammenfand, in denen Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Milieus verkehrten, deren Wirken und Einfluss von der Geschichtsschreibung erst ansatzweise erkundet worden sind. Der polnische Fotograf Eustache Kossakowski (1925-2001), der dieses Milieu in einer außergewöhnlich reichen Dokumentation festgehalten hat, ist auch Autor mehrerer Fotoserien wie Six mètres avant Paris (Sechs Meter vor Paris) und Les Palissades, die den heutigen Betrachter unmittelbar in das Straßengeschehen der französischen Hauptstadt in jenen Jahren versetzen. Ausgehend von dieser Ansammlung von Werken, Schriften, Ideen, Orten, Situationen und Personen möchte ich die Beziehungen zwischen der sogenannten Konzeptkunst und der Straßenkunst unter einem anthropologischen Blickpunkt erforschen. Beide gemeinsam war ein ausgeprägtes Interesse für das urbane Terrain als Ort der Kunstproduktion außerhalb der traditionellen Ausstellungsräume, eine Vorliebe für ortsspezifische Interventionen und eine politische Grundhaltung, die ihre Kritik an Institutionen und Schreibpraktiken entscheidend mitprägte. Ferner möchte ich einen Forschungsansatz für Clauras Schriften entwickeln, der es erlauben soll, die theoretischen Fragestellungen herauszuarbeiten, die er mit seinen damaligen Weggefährten teilte.
Vorträge des Jahresthemas 2021/22 »Street Art«
Mardi 19.10.2021, 18h-19h30
Larissa Kikol (Kunstkritikerin und Freelance Forscherin)
»Graffitis – Ein diffuser Nebel in der Kunstwelt«
Mardi 16.11.2021, 18h-19h30
Claire Calogirou
»Graffiti-Forschung und -Sammlung im Mucem«
Mardi 07.12.2021, 18h-19h30
François Chastanet (Architekt, Graphikdesigner und Typograph, Mitbegründer des Ateliers TypoMorpho)
»Sechs Schriften der Weltstadt«