Jahresthema 24/26 – Natur
Jahresthema 2024/26 – Natur
Der Begriff »Natur« ist anziehend und einschüchternd zugleich: für die einen beschreibt er was gegenwärtig unter dem Einfluss des Menschen zu verschwinden droht, für die anderen verkörpert er ein moralisches Grundprinzip, in dessen Namen man über unsere Handlungen, ihr natürliches oder widernatürliches Wesen urteilt. Der Versuch, einen solchen Begriff zu bestimmen, führt zwangsläufig zu negativen Bestimmungen: die Natur ist nicht zuletzt durch dasjenige bestimmt, was sie nicht ist (Kultur, Künstlichkeit, Anthropisierung etc.).
Vor dem Hintergrund dieser paradoxen und vieldeutigen Struktur des Begriffs »Natur« geht das Jahresthema 2024/26 davon aus, dass »Natur« weniger eine statische, allgemeinverbindlich fassbare Größe bezeichnet als vielmehr ein ideelles Konzept und eine Abstraktion (Philippe Descola). Das zeigt sich beispielhaft in den vielfachen Verflechtungen zwischen Natur und Kunst. Indem die Kunst die Natur zum Gegenstand ihrer Werke macht, sie als künstlerisches Material, als Ideal und Utopie, aber auch als Gegenentwurf adressiert, vermittlelt ihre konkrete Arbeit am Werk eine bestimmte Idee der Natur. Von der Urhütte als »natürlichem« Ursprung der Architektur (Gottfried Semper) über das Projekt Cézannes, »Poussin auf dem Umweg über die Natur zu erneuern« bis hin zu den aktuellen Debatten über das Anthropozän als Stadium eines denaturalisierten Lebens auf der Erde sind Konzepte der Natur in der Kunst allgegenwärtig und bestimmen die unterschiedlichsten Entwürfe und Verfahren: Malen nach der Natur, »natürliche Malerei« (John Constable), »die Natur – nicht das Werk des Künstlers – als Vorbild« (Lysipp nach Plinius d.Ä.), Moulagen und andere Abformungen der Natur, Natur als schöpferische Kraft und Bildproduzentin (Talbots Pencil of Nature), Lob der Künstlichkeit als Gegenentwurf zur verabscheuenswürdigen Natur (Baudelaire). Diese Verbindungen von Natur und Kunst umfassen die verschiedenen Gattungen der Kunst ebenso wie ihre geschichtliche Entwicklung.
Direktion
Coline Desportes
Promoviert an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS)
„Natur“: Weben der Natur für den Aufbau der Nation? Wandteppiche aus dem unabhängigen Senegal (1960-1980)
1966 wurde im senegalesischen Thiès eine nationale Tapisserie-Manufaktur eingeweiht. Auf Wunsch von Léopold Sédar Senghor, dem ersten Präsidenten des unabhängigen Senegal, führte die Manufaktur die Technik der Litzenweberei ein, wie sie in der Zwischenkriegszeit von dem französischen Künstler Jean Lurçat und seinen Gesellen in den Werkstätten von Aubusson erneuert worden war. Die Untersuchung des Korpus der in Thiès hergestellten Wandteppiche legt dar, dass ein Großteil der Arbeiten das Genre der Landschaftsdarstellung ausmacht und eine Ikonografie rund um Fauna und Flora sowie einen Bezug zu Orten oder der Umwelt aufweist. Dieses Forschungsprojekt beabsichtigt, diese Werke einer Neubewertung zu unterziehen. Indem es die Formentwicklung mit der Geschichte der Tourismus- und Umweltpolitik verbindet, trägt das Projekt zu einem Verständnis dessen bei, was die von Senghor vorgeschlagene Definition der Natur als Aufbau der Nation intendiert - nicht als eine koloniale Fremdbestimmung in der Zuweisung der Afrikaner zur Natur, sondern als ein postkolonialer Anspruch der Senegalesen. Das künstlerische Arbeiten in der Manufaktur wird als Prozess an einem Ort der Herstellung und Übertragung dieser spezifischen Naturbilder untersucht, insbesondere im Blick auf die Geschichte des Mediums und der Technik, der transnationalen und internationalen Zirkulation und schließlich des erneuerten Engagements der Künstler.
Clémence Fort
Promoviert in Kunstgeschichte an der École normale supérieure in Paris / Université Paris Science et Lettres (im 4. Jahr)
Koloniale Natur und die Kultur der Neugier: Amerikana-Sammlungen in Frankreich (1700-1763)
Im Frankreich des 18. Jahrhunderts treffen wir auf Sammlungen, die koloniale Artefakte aus Neufrankreich zeigten, der französischen Kolonie Nordamerikas, die dann 1763 an Spanien und Großbritannien abgetreten wurde. Diese Artefakte wurden in französischen Sammlungen in Paris und in Hafenstädten in der Provinz zusammengetragen. Sie umfassten eine große Vielfalt an Objekten (Wampums, Modelle von Kanus, Souvenirkisten) und zeugen von einer Neugier sowohl auf die Natur der für Nordamerika typischen Materialien (Muscheln von der nordamerikanischen Atlantikküste, Birkenrinde, Stachelschweinstacheln oder Biberfelle), als auch auf die Natur der kolonialen Räume. Die Objekte, die häufig neben anderen Naturalia ausgestellt wurden, repräsentierten, in der französischen Kapitale, die indigenen Kenntnissen und Techniken und beförderten gleichzeitig ein neues Interesse an der kolonialen Natur. Das Forschungsvorhaben fragt nach den Auswirkungen dieser Sammlung auf das koloniale Imaginäre. Die Betrachtung des Zusammenspiels zwischen Natur und Kultur im kolonialen Objekt ermöglicht es, die Dispositionen und Konnotation einer Neugier zu hinterfragen, die anders als in der Zuweisung zum Exotischen und zur Andersartigkeit, die Formen des Wissens und der Sichtbarkeit betont, eine Wissensgeschichte, die zwischen der französischen Metropole und ihren Kolonien zirkulierte.
Clara Lespessailles
Promoviert in Kunstgeschichte an der École pratique des hautes études.
Idee und die Erfahrung von Natur bei Ingres' Schülern
Der Verweis auf eine Theorie der Natur nimmt in den Einlassungen von Ingres und seinen Schülern einen zentralen Platz ein, sowohl in ihren öffentlichen Stellungnahmen als auch in ihrem privaten Austausch. Die Natur, die systematisch als Vorbild und Richter in Kunstfragen herangezogen wird, stellt für diese Künstler eine ästhetische Grundlage dar, die Fragen wie Stil, Schönheit und Norm begründet - sofern sich hier generell von einer gültigen Norm sprechen lässt. Sie ist Setzung eines Anspruchs und verkörpert ein Ideal, das es zu erreichen gilt, und bleibt zugleich furchterregende Herausforderung. Die Natur als eine dynamische und schwer fassbare Kategorie wird dennoch für diese Künstler zu einer integralen Norm, die einerseits ihre künstlerische Praxis strukturiert und andererseits sich zu einem Thema theoretischer Überlegungen ausformuliert. Dieser ebenso instabile wie wesentliche Begriff ist vor allem untrennbar mit dem Begriff der Wahrheit verbunden, in einem sowohl mimetischen als auch moralischen Sinn. Erstaunlicherweise manifestiert er sich aber eher als Kombinatorik von Ethik und Ästhetik, ohne dass die Landschaft an der Fundierung des Begriffs direkt beteiligt ist. Bei den Brüdern Flandrin oder auch bei Alexandre Desgoffe ermöglicht die Berücksichtigung der Landschaft hingegen eine Bezugnahme auf diese ursprüngliche Kategorie der Natur, um über die etablierten kanonischen Grenzen hinauszureichen.
Das Streben nach ursprünglicher Reinheit, das den Primitivismus von Ingres und seinen Schülern definiert, wird von den Ideen Winckelmanns inspiriert, aber auch durch eine bereits bei J.-L. David vorhandene Vision bereichert, nach der die Natur als Grundlage und Horizont des künstlerischen Schaffens betrachtet wird. Diese polysemantische Problematik einer Naturerfahrung und der Ausbildung einer Idee von Natur möchte ich in diesem Projekt untersuchen. Absicht ist, die Perspektive um eine doppelte Erweiterung zu bereichern: zum einen mit der Genealogie dieser Theorie der Natur innerhalb des Neoklassizismus sowie zum anderen mit einer Verortung derselben Theorie, die zwischen 1800 und 1850 einer zugleich akademischen und primitivistischen Strömung eigen ist. Dabei soll das Phänomen in den Kontext der zeitgenössischen romantischen und realistischen Debatten eingeordnet werden.
Pauline Mari
Doktor der Kunstgeschichte (Promotion an der Universität Sorbonne) und Schriftstellerin
„Das Natürliche jagen“. Der Einbruch des Tiers im klassischen Kino
Franju, Truffaut, Fellini, Hitchcock, Chaplin, Renoir... Die meisten großen Filmemacher haben sich mit dem Naturzustand, seiner Flamboyanz, seiner Reinheit, seinem Martyrium und seinem instinktgesteuerten Wahnsinn in der Form auseinandergesetzt, in der sie sich am besten ausdrücken konnten: der verstörenden Tierwelt. Die Bestie tritt dort nicht leibhaftig in Erscheinung. Sie taucht in der Psyche auf. Oftmals in einem Zustand der Kontemplation, der Verzückung, manchmal des Albtraums, aber immer als Hommage an das, was es von uns in sich trägt. Es ist an der Zeit, ihre Filme allein wegen dieser Aufnahmen, Szenen und fabelhaften Einbrüche erneut anzusehen, mit Aufnahmen, in denen der Zustand des Tieres als solcher angenommen wird, nahezu verherrlicht, und – dem Menschen benachbart – dem in einer filmischen Inszenierung nahegerückt wird. Es geht um eine Schöpfung, die genauso gut oder sogar besser sein konnte als die Tiermalerei der letzten Jahrhunderte. Wenn Bresson in Au hasard Balthazar die Biografie eines geschlagenen Esels beschreibt, dann um Auge in Auge ein Tier zu betrachten, das er zur Heiligkeit erhebt und dessen Mysterium und griechische Erotik er jenseits dessen wiedergibt, was ein Maler je zu malen auch nur versucht hätte. Wenn Fellini am Ende von La dolce vita ein Seeungeheuer filmt, das vom Meer an den Strand ausgespuckt wird, erhebt er es in die Reihe der Aberrationen der Natur, dorthin wo Chardin sich mit seinem Rochen vom Üblichen abhebt. Dieses Projekt möchte ein Bestiarium entwerfen, indem es eine faszinierende und verkannte Beziehung zur Natur anhand von Meisterwerken der Filmgeschichte erforscht.
Claire Sourdin
Doktor der Kunstgeschichte der Neuzeit (Universität Paris 1 Panthéon-Sorbonne)
„Natur": François Boucher und die Natur: Die Landschaft als Ort der Divergenz (1725-1770)
Dieses Forschungsprojekt möchte „Natur“ mit der Untersuchung des Korpus der Landschaftsmalerei François Bouchers entlang zweier Achsen hinterfragen: Zunächst in einem ökonomischen, didaktischen Sinne, d.h. anhand der Organisationselemente, die das konstruierte Ganze in der Malerei bestimmen. Diese erste Befragung argumentiert produktionsästhetisch und analysiert zugleich die topografische Beziehung des dargestellten Raums einschließlich einer Identifizierung des Ortes, der dargestellt werden sollte. Die Problematik der Landschaft bezieht unweigerlich die agrarische Trilogie ager-saltus-silva, die die Naturräume charakterisiert und unterscheidet, ein. In Bouchers Landschaften, die einen geschlossenen und oft zum Betrachter hin offenen Raum darstellen, ist fast immer ein locus amœnus dem locus terribilis gegenübergestellt, was folgerichtig die Frage nach einer Symbolik des Raums, aber auch die Frage nach der Wahrscheinlichkeit (als Korrelat zur Wahrhaftigkeit) stellt.
Die Auswahl, die der Maler bei der Wiedergabe der Naturelemente (Pflanzen, Mineralien, Tiere) getroffen hat, und der Ausschluss bestimmter anderer Elemente, die für die Landschaft, wie sie wirklich zu sehen ist, typisch sind, ermöglichen eine vertiefte Lesart, welche die abwesenden Elemente ausdrücklich einschließt. Überlegungen zur Materialität (insbesondere im Zusammenhang mit der graphischen Landschaft im Ätzverfahren) befördern den Blick auf die Art und Weise, in welcher der Maler die Natur in seinen Bildern technisch wiedergibt, auf das Spiel mit Impasto, Farbkombinationen oder auch mit Einschnitten in die Kupferplatte im Fall der Grafik. Schließlich hinterfragt der Fokus auf die Materialität des Kunstwerks die Beziehung, die das Werk zu einer landwirtschaftlichen und botanischen Realität dieser Zeit einnimmt (oder diese aufbricht). Dies, wie ebenso die politischen Herausforderungen der Naturräume im 18. Jahrhundert (Gärten, Agrarland usw.) wurden bislang nicht auf das Korpus der Bilder Bouchers bezogen.
Die zweite in Anschlag gebrachte Achse der Untersuchung ist sozialer Natur: Es wird darum gehen, die Landschaft als natürlichen, von der Welt entfernten Raum, als Ort des Rückzugs und als Fluchtraum zu hinterfragen. Sie wirft die Frage nach der Praxis und der Nutzung dieser geselligen Räume auf, indem sie die Betrachtung der in diesen Landschaften anwesenden Akteure, Fragen nach ihrem Status, ihren Interaktionen (untereinander und mit der Natur), etc. eröffnet. Der künstliche und chimärische Charakter von Bouchers Landschaften impliziert ein Spannungsverhältnis zwischen zugrundeliegender Poetik und Realität. Solcherart Fragestellungen machen insbesondere die Projektionseffekte des Werks auf den Betrachter sichtbar. Eine expressive und narrative Möglichkeit der gemalten Natur tritt anhand der Korrelation der hier benannten Elemente hervor. Sie liegt jenseits dessen, was uns auf den ersten Blick als Eindruck einer veralteten Welt und des Scheincharakters gegenüber tritt.